Projektaufruf „Schicksal(e) der Großregion“ – Die ausgewählten Beiträge
Im Rahmen des Projektaufrufs „Schicksal(e) der Großregion“ wurden insgesamt neun Beiträge ausgewählt. Hier finden Sie eine Zusammenfassung der vorgeschlagenen Arbeiten.
Michel Ferry – Die Schleuser im Vogesenmassiv
Die wechselnden politischen Grenzziehungen machen das Vogesenmassiv zum natürlichen Grenzgebiet zwischen Frankreich und Deutschland. Die Bergbewohner organisierten sich noch vor den bewaffneten Konflikten des 20. Jahrhunderts zunächst als Schmuggler, dann als Schleuser. Zur Illustration dieser Thematik stellt diese Arbeit das Wirken des elsässischen Schleusers Michel Ferry vor, der zwischen 1940 und 1944 insgesamt 978 Personen über den Pfad von Salm nach Moussey schleuste. Diese Arbeit befasst sich mit den Kontakten und zahlreichen Verknüpfungen, die etabliert wurden, um die Flüchtlinge aus dem von Nazi-Deutschland annektierten Elsass nach Frankreich zu bringen.
Jean-Antoine-Daniel-Léopold Knoepffler – Gründung eines Weingroßhandels zwischen Frankreich und Deutschland
Jean-Antoine-Daniel-Léopold Knoepffler, im Jahr 1782 ein lothringischer Mönch, weigerte sich, den von der Zivilverfassung vom Klerus geforderten Eid abzulegen, und baute einen Weingroßhandel zwischen dem Burgund und Deutschland auf. Er heiratete, wurde der Spionage und des Verrats verdächtigt, bevor er mehrere Monate lang in Metz inhaftiert wurde. Er floh daraufhin nach Deutschland und seine Spur verliert sich im Jahr 1836 in Mainz. Die Arbeit beleuchtet den wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Kontext der damaligen Zeit anhand dieses Lebensweges auf beiden Seiten des Rheins.
Die Gemeinschaft italienischer Einwanderer in der Großregion
Seit Beginn des 20. Jahrhunderts tragen die italienischen Einwanderer durch ihre zahlenmäßige Stärke und ihre Einbindung in das lokale Leben zur wirtschaftlichen, politischen, kulturellen und sportlichen Entwicklung der Großregion bei. Das Schicksal dieser Gemeinschaft seit den 1970er-Jahren ist einzigartig und die Auseinandersetzung damit ermöglicht es, die Migrationsgeschichte, die transalpine Herkunft und die italienische Kultur als Erbe zu begreifen. In der Arbeit wird dieses Schicksal anhand literarischer und filmischer Werke analysiert, deren Autoren unter anderem aus der Großregion stammen. Mittels dieses Korpus untersucht die Autorin, wie die Realität dieser Gemeinschaft dargestellt wird und wie sie zur Akteurin der Geschichte und Entwicklung der Großregion geworden ist.
Existierte die Großregion schon vor hundert Jahren? Verständnis und Praxis der Grenzen von Jean de Bertier (1877-1926)
Jean de Bertier (1877-1926) gehörte einer Adelsfamilie des Ancien Régime an. Nach einer militärischen Karriere engagierte er sich in der Politik und wurde Senator des Departements Moselle. Zeit seines Lebens unterhielt er eine besondere Beziehung zur Grenze von Elsass-Lothringen, die infolge der verschiedenen bewaffneten Konflikte geschaffen und mehrmals verschoben wurde. Nachdem er sie zunächst erlitt, nutze er die Grenze dann, um sein Erbe durch grenzüberschreitende Investitionen, vor allem in der Eisen- und Stahlindustrie zurückzukaufen und zu erhalten. Obwohl die Großregion zu dieser Zeit noch nicht existierte, ermöglicht diese Arbeit sowohl die Besonderheiten dieser Region zu identifizieren als auch ein besseres Verständnis für den Zeitraum 1903-1926 zu entwickeln.
L'Union des Chambres de Commerce Rhénanes (UCCR)
Die UCCR ist eine transnationale konsularische Vereinigung von Unternehmen, die am Rhein und seinen Nebenflüssen ansässig sind. Ihre Mitglieder befassen sich gemeinsam mit Fragen, die eine Zusammenarbeit über die Grenzen hinaus notwendig machen, wie z. B. dem Flussausbau oder der Schaffung transeuropäischer Wasserstraßen (Rhein-Donau-Verbindung). Die UCCR verkörpert eine Vision des europäischen Aufbaus von „unten“ durch die treibenden Kräfte der Wirtschaft. Darüber hinaus ist sie ein Ort der Geselligkeit und des Erfahrungsaustauschs der rheinischen Wirtschaftseliten und bietet sich zur Erstellung eines Gruppenporträts dieser rheinischen Industriellen und Unternehmer im Herzen der künftigen Großregion an.
Der Philosoph Pierre Hadot, ein Leben geprägt von Einflüssen von jenseits des Rheins
Pierre Hadot (1922-2010) wird in Paris als Sohn einer aus dem Departement Moselle stammenden Familie geboren und im Grand Séminaire de Reims, einem Ausbildungszentrum für den Klerus, zum Priester geweiht. Als Papst Pius XII 1950 die Enzyklika Humani generis verkündet, führt dies progressiv zu seinem Austritt aus der katholischen Kirche (1952). Er wendet sich der Philosophie zu und heiratet die deutsche Philosophin Ilsetraut Marten. Diese Arbeit befasst sich mit dem intellektuellen Werdegang des Philosophen Pierre Hadot, der sowohl persönlich als auch akademisch durch verschiedenste Einflüsse, insbesondere auch solche von jenseits des Rheins geprägt, war.
Die belgischen Offiziere zur Zeit des Zusammenbruchs des napoleonischen Reiches
Seit den Revolutions- und den napoleonischen Kriegen waren die grenzüberschreitenden Aktivitäten und die Loyalität der belgischen Militärs zwischen den Armeen Frankreichs, der Niederlande, Deutschlands und Österreichs aufgeteilt. Mit dem Zusammenbruch des napoleonischen Reiches zwischen 1813 und 1815 änderte sich erneut die Lage und es stellte sich die Frage nach der Loyalität und Identität zwischen Frankreich, den Niederlanden und dem deutschsprachigen Raum. Die vorliegende Arbeit befasst sich mit der Analyse der Bewegungen der belgischen Militärs und ihrer Motivationen, die die verschiedenen Machthaber zu kontrollieren versuchten.
“Kein Verein kann auf eine ähnlich erfolgreiche Geschichte zurückblicken”- Amateurfilmclubs der Großregion als Chronisten ihrer Zeit am Beispiel des CAL
Die Demokratisierung des Kinos führte zur Gründung von Filmclubs, die als Chronisten des Alltagslebens fungierten und die sozialen und industriellen Veränderungen der Nachkriegszeit dokumentierten. Der „Club des Auteurs et Vidéastes de Luxembourg“ (CAL), der in der Großregion beispielhaft ist, betreibt seit seiner Gründung im Jahr 1945 länderübergreifende Aktivitäten. Seine Mitglieder waren und sind noch heute aktive Organisatoren von Filmligen und -wettbewerben im Inland und auf internationaler Ebene. Am Beispiel dieses Vereins lassen sich Parallelen und Unterschiede zu anderen in Lothringen, Wallonien und im Saarland vertretenen Vereinen aufzeigen.
Die elsässisch-lothringischen Kriegsgefangenen während des Ersten Weltkriegs
Das Schicksal der elsässisch-lothringischen Kriegsgefangenen, die während des Ersten Weltkriegs in deutscher Uniform kämpften, wurde bisher kaum thematisiert. Es zeugt davon, wie zwiespältig die Wahrnehmung des Elsass und der Mosel nach ihrer Rückkehr nach Frankreich im Jahr 1918 in beiden Ländern war. In Deutschland verschwindet das verlorene Reichsland nach dem Krieg schnell aus der Historiografie und Erinnerungspolitik. Die Soldaten, die noch während des Krieges in deutscher Uniform starben, werden aber auf deutschen Soldatenfriedhöfen beerdigt. Frankreich unterscheidet seinerseits zwischen „pro-französischen“ und „pro-deutschen“ Gefangenen. Letztere werden als „unerwünscht“ betrachtet und verbleiben in Haft.